Autor:
Walter Weinzierl
Der Stier im Sünser See
Im kleinen See der Alpe Süns haust der gefürchtete Sünser Stier. Er taucht jeweils aus der Flut hervor, schwimmt ans Ufer und schreckt das Alpvieh, das in wilder Flucht davonrennt. Dann hat der Kühbub einen harten Tag, bis er die zerstreute Herde wieder vollzählig gesammelt, wenn nicht gar ein oder das andere Stück in einen Abgrund stürzt. Einst kamen Fremde auf die Alpe, und einer der Sennen erzählte den fröhlichen Gästen im traulichen Gespräche vom Getriebe jenes Unholds. Als die Besucher abzogen, warfen sie im ungläubigen Uebermuthe Steine in den See und riefen dem Stier allerlei Schmähworte zu. Alles blieb ruhig. In der Nacht jedoch wurden die Alpleute durch einen wahren Höllenlärm aus dem ersten Schlafe aufgeschreckt. Das Dach der Sennhütte erbebte unter furchtbaren Stößen und gewaltigem Getrampel und drohte einzustürzen. Der Stier tobte oben und wollte, da die Thüre gut verschlossen und gesegnet war, sich einen Eingang durch das Dach verschaffen. Bei dieser großen Gefahr bekreuzten sich die Alpknechte und verließen nach kurzer Berathung in aller Stille die Hütte, um sich mit mächtigen Stangen zu bewaffnen und den Feind abzuweisen. Als der Stier die stangenbewehrte Mannschaft entschlossen zum Angriff vorrücken sah, brach er in ein Gebrüll aus, dass die Berge ringsum wiederhallten, sprang in einem Satze vom Dache und verschwand in den schäumenden Wellen. In jenem Jahre verfiel jedoch am meisten Vieh, obgleich der Stier nicht so bald wieder erschien.
Quelle:
Sagen aus Dornbirn gesammelt v. Walter Weinzierl